Bettina Hafner, Gudula Ritz (2020): Irgendwie seltsam ...! Über den Umgang im Coaching mit extremen Persönlichkeiten. Bonn: managerSeminare Verlags GmbH
Der Titel „Irgendwie seltsam ...!“ und das beleibte Tier auf dem Besprechungstisch auf dem Cover haben mich sehr neugierig auf den Inhalt dieses Buches. Und wer von uns erfahrenen Coaches kennt sie nicht, die Situationen im Coaching, in denen ein Coaching-Prozess zäh ist, stockt oder merkwürdig endet. Absicht der Autorinnen ist es (sinngemäß: Covertext) zu sensibilisieren für die Fallen im Coaching-Prozess, für mögliche alternative Herangehensweisen im Coaching und auch, wo Grenzen sind.
Wie ist dieses Buch aufgebaut?
Die Autorinnen Bettina Hafner (Arbeits- und Organisationspsychologin, zertifizierte systemische Coach) und Dr. rer. nat. Gudula Ritz (Diplom-Psychologin, Leiterin des IMPART-Instituts) nähern sich dem Thema „extreme Persönlichkeiten“ im Coaching, in dem sie zuerst über die Bedeutsamkeit und Relevanz von „persönlichkeitsorientiertem Coaching“ für Klient/innen, Coaches, den Coaching-Prozess und -Erfolg nachdenken und einordnen.
Dann stellen sie insgesamt sieben extreme Persönlichkeitsstile vor:
- Ehrgeiziger Stil und Narzisstische Persönlichkeit
- Spontaner Stil und Borderline-Persönlichkeit
- Liebenswürdiger Stil und Histrionische Persönlichkeit
- Loyaler Stil und Abhängige Persönlichkeit
- Selbstkritischer Stil und Selbstunsichere Persönlichkeit
- Kritischer Stil und Passiv-aggressive Persönlichkeit
- Sorgfältiger Stil und Zwanghafte Persönlichkeit
Bei jedem dieser Stile stellen sie ein exemplarisches Fallbeispiel vor, stellen umfangreiche Reflexionen auf
- der Inhalts-,
- der Beziehungs-,
- der Prozess- und
- der funktionsanalytischen (Einordnung in das STAR-Modell von Prof. Dr. Julius Kuhl aus dem Jahr 2001) Ebene für die im Fallbeispiel angesprochenen Aspekte an.
Die Betrachtung eines extremen Persönlichkeits-Stils wird durch ein Interview der Autorinnen zu diesem Persönlichkeitsstil abgerundet.
Den Abschluss dieses Buches machen
- eine kompakte Zusammenfassung der Geschichte und des aktuellen Standes der Persönlichkeitspsychologie und
- eine Einführung in die PSI – Theorie, unter besonderer Berücksichtigung der STAR-Modells (Julius Kuhl, 2001)
- eine zusammenfassende Handlungsableitung für das Coachen extremer Persönlichkeits-Stile
Wie verständlich ist das Buch?
Den Autor/innen gelingt der Spagat zwischen anwendungsorientierten Empfehlungen auf einer wissenschaftlichen Grundlage. Die vorgestellten Fallbeispiele sind eingängig, gut nachvollziehbar für erfahrene Coaches und werden ausführlich und handlungsorientierend im Hinblick auf die Fallen im Coaching-Prozess ausgewertet.
Insbesondere bei den Exkursen werden bestimmte psychologische Grundkenntnisse und Konzepte vorausgesetzt, was die Verständlichkeit für einen Coach-Novizen erschweren könnte.
Für wen ist dieses Buch geschrieben?
Dieses Buch richtet sich in erster Linie an praktizierende Coaches (vgl. Untertitel). Psychotherapeut/innen und Berater/innen werden im Buch ebenfalls als Zielgruppe angesprochen.
Führungskräfte mit psychologischen Grundkenntnissen, die mit extremen Persönlichkeiten im Arbeitsalltag konfrontiert sind, könnten von der Lektüre ebenfalls profitieren.
Wie wichtig ist dieses Buch?
Dieses Buch richtet sich an ein Fachpublikum von Coaches, Berater/innen und Psychotherapeut/innen, die daran interessiert sind, sich fachlich weiterzubilden, die Auswahl ihrer Methoden spezifisch im Hinblick auf die Persönlichkeit ihrer Klient/innen zuzuschneiden und anzupassen und die gleichzeitig damit die Wirksamkeit ihrer Interventionen für ihre Klient/innen erhöhen möchte.
Die Autor/innen zitieren in ihrem Fazit Gunther Schmidt, der auf folgende Frage: „Wie viel psychologisches Wissen soll ein Coach haben? gesagt haben soll: „So viel, wie möglich!“ (Bettina Hafner, Gudula Ritz, 2020, S. 292).
Mein Fazit:
Was hat mir persönlich gut gefallen:
Den Autorinnen ist es hervorragend gelungen, eine durchaus komplexe Materie der „extremen Persönlichkeiten“ durch die gewählten Fallbeispiele lebendig und interessant vorzustellen. Ein großes Kompliment für diese besondere Leistung!
Die Beschreibung der Fallbeispiele hat bei mir das eine oder andere Deja vu im Hinblick auf vergangene Coachingsituationen ausgelöst, so dass bei der ausführlichen und praktischen Auswertung der Fallbeispiele meine eigenen Coachingsituationen quasi „Trittbrett“ gefahren sind und parallel neue Impulse erhalten haben.
Mit großem Genuss habe ich die fachlichen Exkurse gelesen, die mich sehr stark an meine Studienzeit an der Universität in Osnabrück und an die Vorlesungen von Prof. Dr. Julius Kuhl erinnert haben. Diese Exkurse hatten gleichzeitig die Wirkung, neuere Erkenntnisse der Persönlichkeitspsychologie und Neurobiologie zu ergänzen und mit meinem konkreten Handeln als Coach zu verknüpfen.
Der konsequent-strukturierte Aufbau der einzelnen Kapitel lädt ein, sich Schritt für Schritt den verschiedenen Persönlichkeits-Stilen zu nähern.
Was mich nachdenklich gemacht hat:
Beide Autorinnen sind Psychologinnen und Coach, Frau Hafner auch Familientherapeutin: In den Interviews zu den einzelnen Persönlichkeits-Stilen ist mir aufgefallen, dass in der Diskussion zum einzelnen Persönlichkeits-Stil gelegentlich die Grenzen zwischen Coaching, Therapie und Beratung „unscharf“ bleibt.
Ganz konkret: Es werden Therapeut/innen und Coaches gleichermaßen angesprochen und in den Interviews nicht immer differenziert. Bei manchen Fallbeispielen wurde der Hinweis eingebracht, dass der/die Klient/in im Anschluss an das Coaching eine Therapie begonnen hat.
Hier scheint mir als Master-Certified-Coach der International Coaching Federation und als Senior Coach BDP ein Hinweis auf die ethischen Richtlinien der International Coaching Federation geboten, damit die unterschiedlichen Professionen Coaching – Beratung – Therapie in ihrer spezifischen Ausgangsvoraussetzungen und Wirksamkeit anerkannt werden (Interpretation zu Standard 8).
Als Coach habe ich – zum Nutzen der Wirksamkeit des Coachings - die Verantwortung, den Moment zu erkennen, wenn ich als Coach von einer extremen Persönlichkeit stark gefordert/überfordert werde und entsprechend umgehend Coaching-Supervision bzw. Intervision/kollegiale Beratung suche.
Hier hätte ich mir von den Autorinnen stärkere Appelle an die Coaches gewünscht, zur Selbsterkenntnis der eigenen blinden Flecken und zum Wohle der Wirksamkeit des Coachings in Selbsterfahrung, Coaching-Supervision und Intervision/kollegiale Beratung im Sinne der professionellen Weiterentwicklung regelmäßig und nachhaltig zu investieren.
Mein abschließendes Fazit:
Die Autorinnen wollten Coaches sensibilisieren, extreme Persönlichkeiten besser kennenzulernen und besondere Wege im Coaching-Prozess zu gehen – und das ist
wirklich kompakt und nachvollziehbar gelungen. Ein lesenswertes und wichtiges Buch für Coaches!
(AMS)
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